Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker.

Gioconda Belli

Leipzig am vergangenen Samstag. Zehntausende Menschen auf der Straße, kein Abstand, kaum Masken, viel Unverständnis, Wut, Aggressivität. Immer öfter taucht auch in alltäglichen Diskussionen das Stichwort ‚Corona-Müdigkeit‘ auf. Die Kluft in der Gesellschaft wird größer, das Verständnis für die im Rahmen der Pandemie verhängten Maßnahmen nimmt ab. Ein starker Kontrast zum Frühjahr, als Solidarität das Gebot der Stunde war.

Vergangenen Montag zeigte sich diese Kluft auch in meiner Familie. In unserem Großfamilienchat auf WhatsApp wurde über Corona und die damit zusammenhängenden Maßnahmen diskutiert. Extrem kontrovers, hitzig, emotional. Ich bin ja froh, dass wir uns als Familie zutrauen, unterschiedliche Meinungen auszuhalten. Trotzdem ist es eine Belastungsprobe. Bestimmt nicht nur in unserer Familie. Unser aller Leben steht durch die Pandemie Kopf. Jeder geht damit anders um. Jeder hat eine andere Perspektive. Das weiß ich. Aber trotzdem sind solche Auseinandersetzungen nicht schön.

Ich habe seitdem viel nachgedacht. Woran liegt es, dass zum Thema Corona die Wahrnehmungen der Realität und die damit verbundenen Meinungen so auseinander gehen? Für mich, aus meiner Perspektive, ist das alles glasklar. Wir haben doch alle die Bilder aus Bergamo und New York gesehen, wir lesen die Warnungen vor der drohenden Überfüllung der Krankenhäuser auch bei uns, wir sehen doch alle die Kurven, die sich wieder nach oben biegen, und die Zahlen, die steigen. Warum kommen wir aber doch nicht alle zu dem gleichen Schluss?

In der aktuellen Diskussion zur Corona Pandemie gibt es zwei Schwerpunkte: Zum einen die Maßnahmen, die getroffen werden, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Welche Maßnahmen werden getroffen, und vor allem auch: wer leidet unter den jeweiligen Maßnahmen. Der zweite Schwerpunkt besteht in Hintergründen, Fakten und Zahlen zum Virus an sich.

Die Maßnahmen sind für uns alle ganz leicht zu greifen. Für uns, die Kinder haben, die monatelang nicht zur Schule oder KiTa gehen konnten. Wenn wir nicht selbst einen Job haben in einer von den Maßnahmen betroffenen Branchen, so haben wir doch alle unser Lieblingscafé, das schließen muss. Der Kellner, der uns erzählt, dass er seinen Job verliert und nicht mehr weiß, wie er sein Studium finanzieren soll. Unsere persönliche Erfahrung wird ergänzt und begleitet durch die Berichterstattung in den Medien. Es gibt Artikel, Sendungen, Interviews und Erzählungen, in denen uns Künstler*innen, Selbständige, Kleinunternehmer*innen, Mittelständler, Vorstände/innen, Schüler*innen, Lehrer*innen, …. ihre individuelle Geschichte erzählen. Wir erfahren, wie alt sie sind, wie sie heißen, oft ist ein Foto dabei, wir lernen über ihre Ängste und Träume. Die Maßnahmen und ihre Auswirkungen sind für uns greifbar, fühlbar, sichtbar. Deshalb ist es ganz selbstverständlich, hier mit den betroffenen Menschen Solidarität zu empfinden. Wir gehören schließlich, mehr oder weniger, dazu.

Ganz in den Hintergrund rückt jedoch die Ursache für die Notwendigkeit der Maßnahmen. Das neue Corona Virus, Sars-CoV-2. Das Virus, was extrem ansteckend, noch wenig erforscht ist, und sich in der ganzen Welt verbreitet hat. Es gibt noch keinerlei Herdenimmunität, und noch keinen Impfstoff. Das Virus hat sich unaufgefordert in unserem Leben breit gemacht, es ist der Grund, warum vielfältige Maßnahmen implementiert werden. Im Gegensatz zu den Maßnahmen, die wir tagtäglich in unserem Leben spüren, ist das Virus sehr abstrakt und dadurch sehr weit weg. Die Gefahr, die es darstellt, ist nicht greifbar, nicht sichtbar, nicht fühlbar. Noch ist es eine Minderheit an Menschen in Deutschland, die an dem Virus erkrankt, oder an dem Virus verstorben ist. Aus meinem direkten Umfeld ist noch keiner an dem Virus erkrankt. Ich kenne Menschen, ja, das schon, aber das waren entfernte Bekannte. Ich kenne Berichte, vom Hörensagen, wie schlecht es einigen ging. Trotzdem, auch für mich ist die Bedrohung sehr theoretisch.

Auch dieses Gefühl wird von der Berichterstattung in den Medien begleitet und ergänzt. Wenn über das Virus gesprochen wird, werden Grafiken gezeigt, Zahlen und Fakten, um die aktuelle Situation abzubilden. Eine Berichterstattung, basierend alleine auf Zahlen und Fakten, kann aber wichtige Botschaften nicht emotional bei uns verankern. Wenn das Ziel ist, bei uns als Gesellschaft Solidarität und Verständnis für die beschlossenen Maßnahmen zu inspirieren, muss sich die Art der Berichterstattung anpassen.

Den Medien kommt hier eine größere Bedeutung zu. Sie müssen das Bindeglied sein zwischen den abstrakten Fakten, den Menschen, die sich hinter den Fakten verbergen, und uns, der Bevölkerung. Ich verstehe das Zögern. Auch ich habe den Vorwurf vernommen, die Medien würden Panikmache betreiben, wenn sie versuchen, die Gefahr des Virus deutlich zu machen. Wenn wir mit Bildern konfrontiert werden die Massengräber in Brasilien zeigen, Kühltrucks statt Leichenwagen in den USA, eine Station mit Schwerkranken in einem Krankenhaus in Spanien. Auch ich habe nicht gerne Angst, auch ich würde lieber die Augen verschließen vor einer Realität, auf die ich nur begrenzt Einfluss habe. Aber ich bin überzeugt, dass es unerlässlich ist, die Realität der Corona Pandemie in allen Facetten zu zeigen. Nur wenn wir die Zerstörungskraft des Virus anerkennen, werden wir in die Lage versetzt, uns adäquat zu verhalten.

Es ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis, den Sinn hinter einer Aktion, einer Forderung, sehen und verstehen zu wollen. Wir alle können also nur aus vollem Herzen die Maßnahmen mittragen, wenn wir verstehen, warum die Maßnahmen wichtig sind. Und dieses Verständnis erreichen wir nur, wenn wir uns immer und immer wieder damit auseinandersetzten, welche Gefahr eine unkontrollierte Verbreitung des Corona Virus bergen würde. Welche Gefahr dann besteht für unsere Mitmenschen. Vielleicht auch irgendwann für jemanden, den wir selbst kennen und lieben. Oder für uns selbst.

Die Auseinandersetzung beginnt damit, dass wir anfangen müssen, ganz anders über Menschen, die vom Corona Virus betroffen sind, zu sprechen. Wir müssen diesen Menschen ebenfalls die Möglichkeit geben, sichtbar und wichtig und schützenswert zu werden. Schließlich könnte dieser Mensch morgen auch ich sein. Oder du. Noch ein Snapshot aus meinem Leben, ebenfalls Anfang der Woche: Du, X und Y sind Corona positiv getestet worden. Aber sag es bitte niemandem! Da geht es doch schon los: Warum ist eine Infektion mit Corona ein Stigma? Die Reaktion auf die Nachricht, dass jemand sich mit dem Virus infiziert hat, sollte Anteilnahme sein, Hilfsbereitschaft, verbunden mit den besten Wünschen für eine schnelle und nachhaltige Genesung. Kein Getuschel, was der oder diejenige vielleicht falsch gemacht hat.

Wie wir über unterschiedliche Situationen im Zusammenhang mit der Corona Pandemie sprechen, das ist wichtig. Worte haben Macht, sie können uns ganz tief im Herzen erschüttern, oder uns kühl auf Abstand halten. Je nachdem, wie wir sie einsetzen. Beispiel: Es droht eine Überfüllung der Krankenhäuser. Ein Satz, der uns ermöglicht, uns ganz entspannt dem Glas Wein zur Tagesschau zuzuwenden. Ein Krankenhaus ist ein Gebäude, und das füllt sich. Irgendwie. Abstand. Merkt ihr?

Was tatsächlich hinter diesen Worten steckt: es werden so viele Menschen so schwer an Corona erkranken, dass für sie kein Platz an einem Ort sein wird, an dem sich ausgebildete Ärzte und Ärztinnen und Pfleger*innen mit den dafür passenden Maschinen und Medikamenten um sie kümmern können. Wenn dem so ist, werden diese erkrankten Menschen zuhause bleiben müssen, wo sie dann entweder notdürftig von einem Angehörigen versorgt werden müssen oder auf sich alleine gestellt sind. Es wird Menschen geben, die werden dann sterben. Alleine. Zuhause. Stellt euch das mal vor. Bildlich. In allen Details, mit allen Geräuschen, und Gerüchen, und Gefühlen. Und jetzt setzt mal einen Familienangehörigen in dieses Bild. Wie fühlt sich das an, wenn ich den gleichen Fakt – überfüllte Krankenhäuser – mal ein bisschen ausführlicher erzähle?

Betrachten wir unter diesem Filter das so oft genutzte Wort der ‚Risikogruppen‘. Hinter dieser vagen Bezeichnung verbergen sich Menschen. Einzelne Schicksale. Nicht nur Senior*innen. Auch meine Freundin, die letztes Jahr Brustkrebs hatte, der Klassenkamerad meines Kindes mit Diabetes, mein Onkel, der vor kurzem eine Herz-OP hatte. Unter anderem sie sind mein Sinn, wenn ich meine Maske aufsetze oder meinem Kind erkläre, warum der Kindergeburtstag der Freundin in diesem Jahr abgesagt werden muss.

Wenn sich das Virus ohne Maßnahmen ungehindert ausbreitet, bricht unser Gesundheitssystem zusammen. Auch hier geht es wieder um Menschen. Schon heute gehen an vielen Krankenhäusern Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger an ihre Grenzen oder weit über ihre Grenzen hinaus. Wir haben schon lange aufgehört, für sie zu klatschen, jetzt hören wir sogar auf, sie zu sehen. Was wissen wir eigentlich über die Arbeit der Ärztinnen und Ärzte vor Ort? In Italien mussten sie zu oft sogar die Entscheidung über Leben und Tod treffen. Ich würde gerne die Gesichter dieser Menschen kennen, und ihre Geschichten hören. Wie ist es, diese Verantwortung zu tragen. Wie ist es, so hilflos zu sein. Wie ist es, so viel Leid so nahe zu sehen. Erzähl es mir, ich höre zu. Erzähl es uns allen, wir halten das aus. Die Menschen, die in den Krankenhäusern arbeiten, verdienen unsere uneingeschränkte Solidarität und unseren Schutz. Wir alle sollten uns, ganz egoistisch, dessen bewusst sein, dass wir funktionierende Krankenhäuser brauchen. Herzinfarkte, Schlaganfälle, gebrochene Knochen oder schwerkranke Kinder gibt es nämlich weiterhin. Es sollte uns also ein tiefes Bedürfnis sein, dazu beizutragen, dass das Gesundheitssystem weiter funktioniert.

Und zuletzt sollten wir von Menschen erfahren, die unter dem Virus leiden oder gelitten haben, und von Menschen, die an dem Virus verstorben sind. Nicht nur in Zahlen – 15.646 Neuinfektionen, über 10.000 Tote. Wir sollten Geschichten hören. Namen. Träume. Ängste. Auf CNN zum Beispiel wird regelmäßig Angehörigen von an Corona verstorbenen Menschen die Möglichkeit gegeben, über ihre Liebsten zu sprechen und so deren Andenken zu ehren.

Wenn es uns gelingt, alle Menschen zu sehen, die sich hinter den Zahlen, Statistiken und Regeln verbergen, dann kann eine vollständige, freiwillige und liebevolle Solidarität entsteht. Dann erkennen wir den Sinn, warum die teilweise tief in unsere Grundrechte einschneidenden Maßnahmen nötig sind. Dann verstehen wir, für WEN wir das tun. Wen wir durch die Maßnahmen beschützen, beschützen müssen.

Du verlangst uns viel ab, SARS-COV 2. Aber du kriegst uns nicht klein. Wir halten zusammen. Als Familien, als Gesellschaft, als Menschheit. Liebe statt Hass. Füreinander statt gegeneinander. Aufmerksamkeit. Mut. Solidarität. Jetzt erst recht.