Soviel mehr als ‚nur alte Menschen‘ – Erinnerungen an meine Großeltern

Adventszeit. Die Zahlen im Adventskalender werden immer größer, die Zahlen der täglich neu gemeldeten Neuinfektionen mit dem Coronavirus leider nicht parallel deutlich kleiner. Und dabei ist doch in nicht einmal drei Wochen Weihnachten.
Weihnachten. Das Fest der Liebe. Weihnachten. Das Fest der Familie.
Wir alle halten uns gerade, mal mehr, mal weniger murrend, an Einschränkungen vor Weihnachten, damit, unter anderem, an den Festtagen Großeltern ihre Enkelkinder unbesorgt treffen können.
Gleichzeitig wächst aber auch der Unmut: Wieso eigentlich müssen wir uns alle einschränken, wenn sowieso nur alte Menschen wirklich durch Corona gefährdet sind?
NUR alte Menschen? Hören wir uns eigentlich noch selbst zu? Woher kommt dieser Gedanke, dass menschliches Leben, der Wert menschlichen Lebens, sich daran bemisst, wie viele Jahre man schon auf dieser Welt verbracht hat oder eher, wie viele Jahre man im besten Fall noch vor sich hat? Das klingt ja gerade so, als ob es weniger schlimm wäre, wenn alte Menschen sterben. ‚Alte Menschen‘. Alt. Nicht so wertvoll wie jung. Alt. Nicht so erstrebenswert wie ‚neu‘. Alt.
Meine Oma mütterlicherseits hat mal, da war sie schon fast achtzig, zu mir gesagt, dass sie das Wort ‚alt‘ gar nicht mit sich in Verbindung bringt. ‚Conny, meine Seele, die wird nicht alt. Ich erschrecke mich manchmal, wenn ich in den Spiegel schaue, und mir eine alte Frau entgegenschaut. Ich fühl mich doch gar nicht alt.‘
An diese Worte muss ich in den letzten Wochen oft denken. Und mit ihnen an meine Großeltern. Vor zwölf Jahren ist meine Oma gestorben. Da war ich schon über dreißig. Ich hatte das riesengroße Glück, drei meiner vier Großeltern noch bis weit ins Erwachsenenalter in meinem Leben zu haben. Beide Großeltern väterlicherseits, und meine Großmutter mütterlicherseits.
Mein Leben wurde durch diese drei Menschen stark geprägt, und ich bin so dankbar für alles, was sie mir allein durch ihr Beispiel mitgegeben haben.
Meine Großmütter, Maria und Theresia, waren charakterlich sehr unterschiedlich. Die Eine ein absoluter Ruhepol, gelassen, heiter, stoisch; die Andere quirlig, laut lachend, immer in Bewegung. Dazu gab es aber eine ganze Menge, was sie verbunden hat. Sie zogen beide fünf Kinder groß, lebten beide auf dem Land, und sie haben gearbeitet. Unermüdlich. Hart. Ohne Jammern. Diese beiden Frauen waren gütig, herzlich und großzügig. Und sie lehrten mich. Rommee spielen. Ketten knüpfen. Hühner füttern. Kartoffeln ernten. Plätzchen backen. Holundersirup herstellen. Und vor allem: sie liebten mich. Ich glaube tatsächlich, dass sie die Worte nie ausgesprochen haben. Aber, mein Gott, haben sie es gezeigt. Durch ihr Interesse an meinem Leben, durch das Lieblingsessen, was bei Besuchen immer auf dem Tisch stand – immer. Ich habe mich immer geliebt gefühlt.
Mein Großvater, Vinzenz, war, neben meinem Vater, meine erste männliche Bezugsperson. Mein Opa hat nie einen Unterschied zwischen mir und meinem Bruder bzw. meinen Cousins gemacht. Wir alle durften mit Pfeil und Bogen schießen, mit dem großen Hofhund spielen, auf dem Traktor mitfahren, mit in den Wald oder ins Feld. Mein Opa hat mich Mut gelehrt, indem er mir wortlos und selbstverständlich Dinge zugetraut hat. Mein Opa hat mir eine neue Welt eröffnet, in dem er mir seine Welt gezeigt hat. Samen, Kerne, Erde, Tiere. Wir Enkelkinder waren ihm wichtig, er hat sich Zeit genommen und geduldig erklärt. Er hat uns ernst genommen, und nie über eine Frage von mir, dem Stadtmädchen, gelacht.

Ich bereue wenig in meinem Leben, aber was ich bereue ist, viel zu wenig wirklich mit meinen Großeltern gesprochen zu haben. Ich bin sehr traurig darüber, sie nicht wirklich kennen gelernt zu haben. Die Frauen hinter dem ‚Oma‘. Der Mann hinter dem ‚Opa‘. Ihre Geschichten zu hören, ihre Ängste, ihre Träume. Und nicht nur, weil ihre Geschichten auch Teil meiner Geschichte sind. Ich war damals noch nicht so weit. Es schien gar nicht so wichtig. Ich wünschte, ich hätte es besser gewusst.
Meine Großeltern fehlen mir ganz schrecklich. Sie waren Teil einer wundervollen Kindheit. Meine Großeltern waren großartig, und so viel mehr als ‚alt‘.
Diese ‚alten‘ Menschen, über die wir in diesen Zeiten so lapidar sprechen, so, als ob sie abkömmlich wären, diese Menschen sind oft noch längst nicht fertig mit leben. Genauso wenig wie du oder ich. Sie träumen, lachen, weinen – wie du und ich. Sie haben uns alle großgezogen, geprägt und geliebt. Sie haben uns beschützt, als wir das noch nicht selbst konnten. Jetzt ist es an uns. Jetzt sind wir dran. Jetzt müssen wir sie beschützen. Und das bedeutet, dass wir sie vor allem als Menschen sehen, als unsere Mit-Menschen, mit der Würde, die dazu gehört. Diesen Respekt sind wir ihnen – als Mindestes – schuldig. Und mit dieser Erkenntnis sollte es uns ein Bedürfnis sein, jeden dieser Menschen zu schützen, indem wir das uns mögliche tun, um die Pandemie einzudämmen. Um jedes Menschenleben sollten wir kämpfen, egal ob es um junge Menschen geht, oder um alte Menschen. Dass vor allem Menschen in hohem Altern sterben, sollte uns daran erinnern, wie dankbar wir eigentlich für jeden ‚alten‘ Menschen sein sollten, den wir noch in unserem Leben haben dürfen.
Ihr alle, die ihr eure Großeltern, Großonkel- und Tanten noch habt – ruft sie doch mal an. Fragt sie, ob sie euch etwas von sich erzählen möchten. Wann immer möglich, schaut ihnen in die Augen, haltet ihre Hände, drückt sie an euch. Fest.
Und, ihr, meine Omas und mein Opa, wo immer ihr auch seid: ich liebe euch. Ich hoffe, das wisst ihr. Ihr seid ein Teil von mir, und ein Teil von meiner Tochter. Ich hoffe, ihr seid stolz auf mich, ich bin auf jeden Fall unglaublich stolz darauf, eure Enkeltochter zu sein. Danke, von ganzem Herzen, danke, für alles!