Zeit für eine Bildungsrevolution statt zurück zum Regelbetrieb

 

Nordrhein-Westfalen, Mitte Juli 2020. In ein paar Wochen sollen die Schulen wieder öffnen. Im ‚Regelbetrieb‘. Regelbetrieb. Der wird uns jetzt als gelobtes Land angepriesen, als das, wonach wir uns alle sehnen sollen. Wofür wir dankbar sein sollen. Unsere Ansprüche sind ja – dank Corona – sehr weit gesunken. Wir freuen uns über jedes bisschen alte Normalität.
Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der ‚Regelbetrieb‘ in deutschen Bildungseinrichtungen vor Corona eher wenig Ersehnenswertes hatte. Zu große Klassen, zu wenige Lehrer*innen, ein völlig veraltetes System. Wir sollten uns jetzt also nicht mit der Rückkehr zum ‚Regelbetrieb‘ zufriedengeben, sondern gerade diesen disruptiven Moment der Pandemie nutzen, um eine bessere Realität, neue Regeln, für den Schulbetrieb zu fordern.

Rückblick – alte Regeln
Die erste PISA-Studie jährt sich in diesem Jahr zum 20. Mal. https://www.pisa.tum.de/pisa-2000-2018/pisa-2000/ Im internationalen Vergleich unter 32 Staaten schnitten deutsche Schüler*innen damals unterdurchschnittlich ab. Der darauffolgende Schock resultierte erstmal in viel Aktionismus und dann auch in kleineren Verbesserungen. Tatsächlich war aber auch dieser Schock anscheinend noch nicht groß genug, um nachhaltige und umfassende Reformen umzusetzen. Heute, 20 Jahre später, ist Bildung in unserem Land immer noch eine Baustelle. In Deutschland, dem Land der Dichter und Denker. Unser Bildungssystem braucht keine Renovierung, sondern endlich eine gründliche Sanierung. Keine Schminke auf Ruinen, sondern eine schonungslose und ehrliche Auseinandersetzung mit dem Status Quo.

Status Quo – Regelbetrieb
Vor einigen Wochen wurde der Bildungsbericht 2020 veröffentlicht. https://www.bildungsbericht.de/static_pdfs/bildungsbericht-2020.pdf Die Ergebnisse laden nicht zum Feiern ein. Wenn wir unser Kapital in Deutschland in Zukunft nicht gefährden wollen – unser Wissen – dann müssen wir jetzt handeln.
Wir leben im 21. Jahrhundert. Unsere Welt ist eine grundlegend andere als noch vor 20 Jahren. Und in noch einmal 20 Jahren wird sie wieder anders sein. Das ist die Realität, und für diese Realität müssen wir unsere Kinder vorbereiten. Das geht nicht mit einem Bildungssystem aus dem vorigen Jahrtausend.
Die Politik verweist bei solchen Vorwürfen schon fast reflexhaft auf die geplante ‚Digitalisierung‘ der Schulen. Wir schmeißen also genügend Laptops in die Schülerschaft und Whiteboards an die Wände und der Rest regelt sich von alleine?

Regelbetrieb durch Digitalisierung
Die ganze Diskussion um Digitalisierung lenkt von den eigentlichen Problemen ab. Diese sind komplex und verlangen hartnäckiges Engagement und finanzielle Mittel. Ich kann gut verstehen, dass da sehnsuchtsvoll eine so glitzernd und linear anmutende Lösung wie die ‚Digitalisierung‘ als Wunderheilmittel propagiert wird. Eine verantwortungsvolle und erfolgreiche Umsetzung von Digitalisierung beinhaltet aber so viel mehr als nur die Ausstattung mit Hardware. Sogar noch mehr, als Schulungen der Nutzer*innen in der Handhabung dieser Hardware. Wir müssen alle Beteiligten vor allem mündig machen im Umgang mit diesen Werkzeugen. Wie sind wichtige, rechtliche Rahmenbedingungen? Wie sind die Mechanismen, die Algorithmen, die hinter Facebook und Co. stecken? Was bedeutet Urheberrecht? Meinungsfreiheit? Recht am eigenen Bild? Was sind Desinformationen? Was ist meine Rolle? Meine Verantwortlichkeit? Wir sollten uns nicht mit dem Schlagwort ‚Digitalisierung‘ als Antwort zufriedengeben. Bestehen wir stattdessen darauf, dass dieses Schlagwort sorgfältig und fundiert in den Schulalltag eingeführt wird.

Digitalisierung ist super. Und auch wichtig. Aber eine Lösung für die Bildungsmisere ist sie nicht. Bei weitem nicht. Digitalisierung ist die Kür. Erst einmal muss man sich im Bereich Bildung aber um die Pflicht kümmern.
Die Pflicht umfasst die Menschen, die das Bildungssystem tragen – das Lehrpersonal, und zum Anderen der Inhalt des Bildungssystems – den Lernstoff. Lassen Sie uns also darüber sprechen.

Lehrpersonal
In ganz Deutschland haben wir seit Jahren einen eklatanten Lehrermangel, der sich immer mehr zuspitzt. Der Beruf des / der Lehrer*in ist kein Berufsweg, den ein*e junge/r, gut qualifizierte/r Schulabgänger*in vorrangig verfolgt. Ganz weit entfernt von einem Traumjob. Dabei brauchen wir gerade in diesem Bereich doch so dringend gut ausgebildeten, fähigen Nachwuchs. Fachkräfte. Eine Gesellschaft sollte dafür kämpfen, gerade im Bildungssektor Talente anzulocken, die begeistert und engagiert die Aufgabe verfolgen, unseren Nachwuchs auszubilden. Die Realität ist jedoch eine ganz andere.
Lehrer*innen gehören zu einer Berufsgruppe, die in unserer Gesellschaft unter einem extrem geringen Ansehen leiden. Es ist gesellschaftlich total anerkannt, den Lehrer als gut verdienenden Faulpelz, der vormittags recht, nachmittags frei und ständig Ferien hat, darzustellen. Und leider haben Lehrer*innen selbst oft gar keine Lobby. Sie haben keinen, der sich vor sie stellt. Oder ihnen den Rücken stärkt. Meiner Meinung nach muss Bildungspolitik hier auch kommunizieren. Erklären, was Lehrer*innen tatsächlich tun. Tagtäglich leisten. Gerade während Corona. Lehrer*innen mussten im Wochentakt mit neuen Regelungen klar kommen. Über diese wurden sie allerdings auch nur informiert. Wenige Tage vorher. In Entscheidungsprozesse einbezogen wurden sie nicht. Warum auch? Man hatte die Hygiene-Experten und Virologen doch gefragt. Spannend. Die Meinung der Schulexperten, der Lehrer*innen, war wohl nicht so wichtig. Wenn noch nicht mal die Politiker*innen, die in Kultusministerien arbeiten, es als ihren Job sehen, für ihre Lehrerschaft einzutreten, und diese wertschätzend zu behandeln – warum sollte es dann die Gesellschaft tun? Die Politik – und wir alle! – sind also mehr denn je gefragt, Berufe im Bildungssystem attraktiv zu gestalten. Schließlich sind diese Menschen dann für unser ‚Humankapital‘ zuständig. Für die Bildung unserer Kinder.

Bildungslebenslauf – Wegbegleiter
Die Bildung eines Menschen beginnt mit seiner Geburt. Alle unsere Fähigkeiten entwickeln wir im Umgang mit anderen Menschen. Eltern, Familie, Freund*innen, Erzieher*innen, Lehrer*innen.
Erzieher*innen sind der erste Berührungspunkt, den ein Kind mit dem Bildungssystem hat. Die Arbeit, die Erzieher*innen im Bildungslebenslauf eines Kindes leisten, ist als genauso wertig und wichtig anzusehen wie die einer/s Universitätsprofessors/Professorin. In den ersten Lebensjahren wird die Grundlage für die ganze Persönlichkeit gelegt. Wenn Kindern von Anfang an wichtige Eigenschaften und Werte beigebracht werden, haben sowohl die Kinder als auch die Lehrer*innen auf den weiterführenden Schulen bis hin zu zukünftigen Arbeitgeber*innen, also die ganze Gesellschaft, es leichter. Eine Investition an dieser Stelle zahlt sich später mit Zins und Zinseszins aus. Erzieher*innen sollten eine dementsprechende Ausbildung durchlaufen. Sie sollten dementsprechend bezahlt werden. Sie sollten dementsprechend wertgeschätzt werden.

Weiter geht es mit den Grundschulen. Grundschulen sind in ganz Deutschland schon seit Jahren das vernachlässigte Stiefkind. In Kitas wurde zumindest strukturell investiert, und die weiterführenden Schulen erregen regelmäßig Aufmerksamkeit, wenn man sich turnusmäßig die Köpfe einschlägt, wie das System überhaupt aussehen soll. Grundschullehrer*innen sind diejenigen, die dazwischen sitzen. Sie sind diejenigen, die den Kindern Lesen, Schreiben, Rechnen, oft auch Schuhe binden oder Jacke knöpfen beibringen. Grundschullehrer*innen sind die Menschen, die unseren Kindern täglich beim Groß werden helfen. Vom Kind, das den ersten Zahn verliert, bis zum Kind, dem man Sexualität erklären muss. Eine der wichtigsten Schnittstellen für einen Menschen überhaupt. Dankbarkeit: Fehlanzeige! Bezahlung: besser als Erzieher*innen, lange nicht so gut wie Lehrer*innen auf dem Gymnasium. Warum eigentlich? Auch Geld ist ein Ausdruck von Wertschätzung.

Neuer Regelbetrieb – Lehrer*innen als Führungskräfte
Die Corona Pandemie hat gezeigt, dass Lehrer*innen viel mehr sind als bloße Wissensvermittler. Wir wollen die Kinder wieder zur Schule schicken, damit Lehrer*innen vor Ort einschätzen können, wie es diesen Kindern zuhause ergeht. Lehrer*innen müssen sich tagtäglich sensibel und individuell mit großen und kleinen Persönlichkeiten auseinandersetzen und im Minutentakt umschalten. Emotionale Intelligenz. Empathische Führung. Manager werden teuer darauf geschult, bei Lehrer*innen wird es einfach vorausgesetzt. Unter Corona müssen sie zudem noch auf Unterrichtsformen zurückgreifen, die sie so bisher nie kennen gelernt haben. Anstatt darauf zu schimpfen, dass die zugemailten Arbeitsblätter unscharf sind oder der Zoom Call mit Klasse 10b immer rauscht, sollten wir die Lehrer*innen schulen und sie dadurch unterstützen, dass wir ihnen Konzepte, Handreichungen, Leitfäden zur Verfügung stellen. Es ist scheinheilig von der Politik, sich hinter ‚Eigenverantwortlichkeit der einzelnen Schulen‘ zu verschanzen. Friss oder stirb. Und das dann auch noch so zu verkaufen, dass man den Schulen ja damit etwas Gutes tut, indem man sie komplett alleine auf weiter Flur stehen lässt.

Lerninhalte
Unsere Schüler*innen sitzen immer länger in der Schule, um Stoff zu lernen, dessen Sinnhaftigkeit schon viel zu lange kein Mensch mehr hinterfragt hat. Meine Kinder lernen die gleichen Dinge, die ich vor 25 Jahren selbst noch gelernt habe.
Schule muss aufhören, Selbstzweck zu sein. Der Stoff sollte nicht um des Stoffes Willen gelernt werden, sondern weil er dazu dient, das Kind / den Jugendlichen auf das Leben vorzubereiten.
Globalisierung, Rassismus, Geschlechtergerechtigkeit, Digitalisierung, Klimawandel– das sind die Themen unserer Zeit. Das werden die Themen der Zukunft sein. Die Kinder, die jetzt im Bildungssystem sind, sind die Menschen, die diese großen Themen lösen werden müssen. Dazu braucht man andere Werkzeuge, anderes Wissen, als die Generationen nach dem zweiten Weltkrieg.

Jetzt unter Corona wird zudem noch klarer, dass Schulen viel mehr sind als Stätten, in denen theoretischer Stoff vermittelt wird. Uns ist bewusst geworden, dass Kinder und Jugendliche dort, auch und vor allem im Umgang miteinander, wichtige soziale Fähigkeiten lernen. Schon vor der Corona Pandemie stieg in der westlichen Welt die Zahl der Menschen, die unter einer psychischen Erkrankung litten, stark an. Unter Corona haben diese Zahlen, ebenso wie die Verbreitung des Virus, exponentiell zugenommen.

Wir müssen unsere Kinder also mit Werkzeugen ausstatten, die ihnen dabei helfen, selbstwirksame Persönlichkeiten zu werden, die in der Welt bestehen können. Dazu gehören vor allem, aber nicht nur Fähigkeiten zur Lösung von Problemen, kritisches Denken, Medienerziehung, das Erkennen von Zusammenhängen, Debattenkultur und Selbstorganisation. Durch die Vermittlung dieser Fähigkeiten ermöglichen wir unseren Kindern wahrhaftige Teilhabe. Wir müssen sie dazu hinführen, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen. Sie ermächtigen, als Erwachsene ihren Teil zu leisten, dass unsere Gesellschaft besser wird. Ihnen ermöglichen, als Individuen ein glückliches unabhängiges Leben führen können.

Gerade jetzt während Corona haben wir die einmalige Möglichkeit, Schule anders zu denken. Schule anders zu leben. Machen wir doch aus der Not eine längst überfällige Tugend!

Regelbetrieb – neu denken
Die Kinder könnten zum Beispiel in flexiblen Kleingruppen zur Schule kommen. In enger Absprache unter den Lehrer*innen und mit den Eltern. Manchen Kindern geht es zuhause vielleicht ganz gut – die sind glücklich, mal ihre Ruhe zu haben, die Eltern können das gut tragen, der Lernfortschritt leidet nicht. Diese Kinder könnten dann seltener zum Präsenz-Unterricht kommen. Andere Kinder brauchen entweder viel Unterstützung, oder können aus welchem Grund auch immer, nicht gut Zeit in ihrem Zuhause verbringen. Diese Kinder könnten dann öfter im Präsenz-Unterricht eingeplant werden. Vorteil: jedes Kind wird noch individueller betrachtet und umfassend gefördert.
Lehren kann anders geschehen. Muss es der „Arbeitsblattwust“ sein? Oder doch lieber ein großes Projekt, das alle möglichen Fertigkeiten abverlangt? Pflanze einen Gemüsegarten und führe Tagebuch, plane die Mahlzeiten für deine Familie und gehe einkaufen, inkl. Verwaltung des dazugehörigen Budgets. Betrachte die Rassismus Proteste in den USA und vergleiche mit ähnlichen Protesten in der Vergangenheit. Ordne die Berichterstattung in den unterschiedlichen Medien ein. Und viele andere „Aufgaben“ die mit dem realen Leben zu tun haben und auf dieses Leben vorbereiten.

Wir müssen anfangen, unser Bildungssystem als eingebettet in die Realität zu sehen. Lebensnahes Wissen vermitteln. Wir können Kindern und Jugendlichen viel mehr zutrauen. Und damit meine ich nicht mehr Stoff oder längere Unterrichtstage. Wir können ihnen mehr vertrauen. In die Neugier und Wissbegier von Kindern und Jugendlichen vertrauen. Wir können ihnen komplexere Zusammenhänge zutrauen und nicht nur kleine zusammenhangslose Wissenshappen.

Und wir müssen aufhören, unsere Kinder für eine Welt auszubilden, die es so schon lange nicht mehr gibt. Unsere neue Realität, unser neuer gesellschaftlicher Regelbetrieb, wird Menschen brauchen, die quer und über verschiedene Disziplinen hinweg denken können. Deswegen sollten wir die Kinder in ihrer Individualität mit ihren ganz eigenen Talenten sehen und anerkennen. Sie ermutigen, ihrer Leidenschaft zu folgen. Kunst, Musik, sogar Tagträumen – all das ist ebenso wichtig wie naturwissenschaftliche Fächer.

Fragen Sie Astrid Lindgren.
Für einen neuen, funktionierenden, nachhaltigen Regelbetrieb müssen wir unsere Lehrer*innen gut auswählen, ausbilden, fortbilden, wertschätzen, bezahlen. Rahmenbedingungen schaffen, aufräumen, ausmisten, mutig sein. Als Eltern und Mitglieder der Gesellschaft mit gutem Beispiel voran gehen. Solidarisch sein. Neugierig sein. Fehler machen. Ehrlich sein. Nicht perfekt sein. Mit unseren Kindern sprechen. Mit den Lehrer*innen unserer Kinder sprechen. Auch mal, um danke zu sagen. Mit unseren Politiker*innen sprechen. Und auf Antworten bestehen. Es muss sich etwas ändern. Ganz grundlegend. Und ganz dringend. Es wird höchste Zeit!